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„Um Zukunft zu gestalten, brauchen wir neue Geschichten“

Durch zunehmende Komplexität wird Unvorhergesehenes immer wahrscheinlicher – das hat die Pandemie erneut gezeigt. Doch wie lässt sich das Narrativ unserer Zukunft schreiben? Was hat das mit Utopien und Dystopien zu tun? Und vor allem: Welche Geschichten wollen wir uns eigentlich erzählen, um unsere Zukunft gestalten zu können? Zukunftsdenkerin und Ungewissheitsexpertin Rike Pätzold, spricht im Plot-Interview darüber, was das mit Storytelling zu tun hat und wie sich Sicherheit in der Ungewissheit herstellen lässt.

Interview von Stefanie Buchacher

Plot: Rike, Du forschst zum Thema Ungewissheit und gibst unter anderem Workshops, wie man sich auf Unvorhersehbares vorbereiten und wie man mit Ungewissheit umgehen kann. Was bedeutet Storytelling für Dich?

Rike Pätzold: Storytelling ist für mich vor allem eine Art und Weise, wie wir mit dem Thema ‚Sense-Making‘, wie wir uns einen Sinn aus Geschehnissen herleiten, einen Zusammenhang oder einen roten Faden reinbringen, umgehen. Ich kann aus den gleichen Tatsachen unterschiedliche Geschichten weben.

Was hat das Erzählen von Geschichten mit unserer Zukunft zu tun?

Die meiste Zeit beschäftigen wir uns nicht bewusst mit Zukunftsgeschichten. Aber unbewusst sind sie immer da.  Wir erzählen uns ständig irgendwelche Geschichten, in denen wir als Hauptperson vorkommen. Wenn wir uns bewusst damit auseinandersetzen, in welcher Geschichte wir tatsächlich vorkommen wollen – welche diese Geschichte ist, die wir uns wünschen – dann zieht uns das in die Zukunft. Dabei geht es darum, dass wir selbst eine Haltung für eine wünschenswerte Zukunft entwickeln, um zu schauen, an welchen Schrauben wir in der Gegenwart drehen müssen, damit diese Geschichten tatsächlich Wirklichkeit werden können. Eine bewusst gemachte wünschenswerte Zukunft beeinflusst unsere Haltung und unser Handeln im Jetzt.

Geschichtenerzählen ist eine spielerische, kreative Herangehensweise – es ist keine Vorhersage, denn wir wissen nicht, was passieren wird und es gibt viele verschiedene Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Aber indem wir uns damit beschäftigen und verschiedene Ideen und deren Auswirkungen vorstellen, können wir uns spielerisch und kreativ einem Zukunftsbild annähern. Und uns dann überlegen: Welche von diesen Geschichten ist die wünschenswerteste?

Geht in Richtung Zukunftsforschung, oder?

Zukunftswissenschaften versuchen, DIE Zukunft vorherzusagen. Das hat etwas sehr deterministisches. Wir dagegen gehen von vielen verschiedenen möglichen Zukünften aus, die wir erforschen, indem wir sie erzählen. Weil es unsere eigenen Geschichten sind, können wir uns damit emotional verbinden. Sobald wir emotional andocken, hat es eine andere Kraft, hat es eine andere Wirkung. Dadurch verschieben sich im Jetzt unsere Wahrnehmungsfilter – beispielweise habe ich eine wünschenswerte Geschichte, ein wünschenswertes Narrativ, dann zieht mich das emotional in diese Richtung.

Bei der klassischen Zukunftsforschung wird u. a. mit Szenarien gearbeitet. Diese sind abstrakt und oftmals ziemlich intellektuell. Aus meiner Sicht ist das Schwierige an der Zukunftsforschung, dass Vorhersagen über Dinge getroffen werden, die letztendlich nicht vorhersagbar sind. Damit entmutig man Menschen, ihre eigenen Geschichten zu schreiben und ihre eigene Zukunft zu gestalten. Wenn ein Zukunftsforscher bestimmte Szenarien und Technologien und deren Auswirkungen auf beispielsweise Arbeitsplätze oder Regierungsformen vorstellt, dann ist das zwar eine Expertenmeinung, aber immer noch nur EINE Meinung. Und viele Menschen, die sich vielleicht nicht mit diesen Themen auseinandersetzen, hängen sich an diese Meinung ran und finden sich damit ab. Dabei ist nichts in Stein gemeißelt und Vorhersagen werden ständig von der Wirklichkeit überholt – das hat zuletzt wieder die Pandemie gezeigt.

Was hat das Geschichtenerzählen mit Utopien und Dystopien zu tun?

Es ist wichtig, sich mit beiden Extremen – dem maximal Negativem und dem maximal Positiven – zu beschäftigen. Weil wir dann ja eine Klarheit darüber entwickeln, was wir denn eigentlich gar nicht wollen oder was wir auch auf der anderen Seite total wünschenswert finden. Dann können wir einen Mittelweg gehen. Wenn man sich mit Dystopien und mit Utopien beschäftigt, merkt man, dass es in beiden Extremen immer wieder Punkte gibt, die nicht wünschenswert bzw. nicht alle schrecklich sind. Reine Utopien sind vielleicht auf den ersten Blick total toll – aber sobald wir in dieses Extrem gehen, kommen wir ins Dogma und in die Manipulation. Pole sind immer lebensfeindliche Orte. Indem wir uns Dystopien und Utopien vorstellen und ausmalen, können wir in jedem Extrem Elemente erkennen, die wir auf keine Fall haben wollen oder auf jeden Fall brauchen. Es ist wichtig, das nicht unausgesprochen zu lassen.

Und wie lässt sich die Zukunft modellieren?

Science-Fiction Prototyping ist eine spannende Methode. Dabei geht es darum, sich mit bestimmten Technologien auseinanderzusetzen, also zu überlegen, welche Implikationen eine Technologie auf unser Leben hätte. Ein schönes Beispiel ist die Netflix-Serie Black Mirror: Da sieht man in jeder Folge verschiedene Technologien und was die mit dem Leben der Leute macht. Auch das ist eine Art fiktionale Zukunftsbeschäftigung, die etwas mit der eigenen Emotion macht und uns dadurch die Zukunft gestalten lässt. Alleine indem wir uns Frage stellen, ob wir diese Zukunftsidee wollen, kommen wir ins Gestalten.

Also geht es darum, mit Geschichten auf die Zukunft zu spekulieren?

Science Fiction hat – wie auch Virtual History – schon etwas mit Spekulation zu tun.
Hier sind es Geschichten, die in der Vergangenheit spielen, aber in einer alternativen Vergangenheit. Das ist spekulative Fiktion – oder spekulatives Design. Und wieder: Indem wir uns vorstellen, wie die Zukunft aussehen könnte, kommen wir ins Gestalten.

Wie kommen wir selbst ins Gestalten?

In dem wir selbstwirksam sind und verstehen, dass in nichtlinearen dynamischen Systemen bereits ganz kleine Verhaltensänderungen schon viel bewirken können. Wir funktionieren als Netzwerke und je mehr kleine Verhaltensänderungen angestoßen werden, desto schneller kann sich das ganze System verändern. Wenn ich aber passiv bin und mir denke, Zukunft ist etwas, das mir passiert – dann verspüre ich wenig Motivation, mein Verhalten zu verändern. Wir können uns selbst überlegen, welche Geschichten wir erzählen möchten und was das für unsere eigene Wirklichkeit bedeutet. Wenn alles passieren kann, kann auch alles passieren. Indem wir uns mit unseren möglichen Zukünften befassen und herumspielen, fällt es uns leichter, mit Ungewissheit klarzukommen und zum Gestalter zu werden. Das verschafft uns auch innere Sicherheit. Die Gegenwart ist das Kniegelenk zwischen Vergangenheit und Zukunft – und hier können wir bewegen.

Wie stellst du dir deine Zukunft vor?

In Zukunft möchte ich auf jeden Fall wieder segeln gehen. Nach Japan. Auf unserem Segelboot habe ich schon so viel gelernt, über mich selbst, aber auch über Ungewissheit und über die ganzen Zusammenhänge – denn Segeln und Kontrolle passen nicht gut zusammen. Man muss immer wieder loslassen und sich auf Ungeplantes einlassen – genau wie im Leben.

 

Rike Pätzold (Jahrgang 1982) beschäftigt sich leidenschaftlich mit den Themen Komplexität und Ungewissheit – und mit der Rolle, die das Geschichtenerzählen für Zukunftsgestaltung spielt. Sie ist Gründerin von NxF I navigate by fiction und arbeitet mit Unternehmen, Gemeinden, Verbänden und Einzelpersonen zusammen, die sich für Zukunftsmodellierung interessieren. Pätzold studierte Sinologie, Japanologie und Sprachphilosophie und schreibt derzeit an ihrem ersten Buch über Ungewissheit, das im Herbst 2021 veröffentlicht werden wird.