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Die Zukunft erzählen

»The future matters.« – Jens Beckert

Storytelling ist eine Wette auf die Zukunft, so der Unternehmensberater Jacques Chlopczyk. Die Geschichten, die wir uns heute erzählen, definieren die Welt, die wir morgen erleben. Viele Start-ups in Silicon Valley meistern diese Form des Geschichtenerzählens bereits mit Bravour. Denn sie sind so jung, dass sie kaum mehr haben als eine Idee und die Art und Weise, wie sie von dieser Idee erzählen.

Doch so rosig, wie die Geschichten der jungen, unverbrauchten Start-ups die Welt von morgen beschreiben, so rosig nimmt die Öffentlichkeit die Zukunft keineswegs wahr. Ganz im Gegenteil. Und ganz besonders nach diesem Jahr. Technikkritik, Innovationsskepsis und Angst vor dem Morgen beherrschen das Bild. Diesem Pessimismus steht aber auch ein Optimismus entgegen. Denn viele Menschen sehen für sich sich ganz persönlich oft sogar eine rosige Zukunft. Trotz Corona.

Kollektiver Pessimismus schlägt individuellen Optimismus

Diesen Widerspruch zwischen »individuellem Optimismus« und »kollektivem Pessimismus« greift der Journalist und Politikwissenschaftler Sebastian Herrmann in seinem Artikel »Träumt mehr« in der Süddeutschen Zeitung im Frühjahr 2018 auf: 

»Gerade haben Psychologen eine Studie veröffentlicht, die die zwei Seelen in der Brust des Menschen offenbart: übertriebener individueller Optimismus und zugleich übertriebener kollektiver Pessimismus. Was speist diese gegenläufigen Tendenzen? Es sind die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, und jene, die wir über den Zustand der Welt erzählen.«

Bittet man Personen, Geschichten aus der privaten, persönlichen Biografie zu erzählen, werden spontan meist positive Ereignisse genannt, wie die große Liebe, Heirat, die Geburt des Kindes, berufliche Erfolge oder auch sportliche Leistungen, auf die man stolz ist. Erst in einem längeren Gespräch wird auch Negatives reflektiert. In den Erzählungen kommen dann Rückschläge, Krankheiten und Schicksalsschläge vor. Und doch enden viele dieser persönlichen Stories positiv, denn auch den negativen Ereignissen wird in der Rückschau meist ein positiver Sinn gegeben. In individuellen Erinnerungen bleibt mehr Positives hängen als Negatives.

Videotipp: Die Neurowissenschaftlerin Tali Sharot erläutert in ihrem TED-Talk unterhaltsam und informativ, warum wir persönliche Ereignisse in unserem Leben überproportional optimistisch betrachten.

Ganz anders dagegen verhält es sich mit kollektiven Erinnerungen. Die Geschichte vieler Nationen wird entlang von Rückschlägen, Katastrophen und Krisen erzählt. Wenn Psychologen die Eckpfeiler der Geschichte einer Nation abfragen, werden in der Regel Kriege, Rebellionen und Aufstände aufgezählt.

Es hat den Anschein, dass wir das kollektive Gedächtnis anhand negativer Ereignisse trainieren und sich daher ein ungesundes Missverhältnis zwischen unserer persönlichen Befindlichkeit und der kollektiven Wahrnehmung einstellt. Während wir in unserem privaten Umfeld alles zu optimistisch sehen, urteilen wir über das kollektive Umfeld in weiten Teilen zu pessimistisch. Und Sebastian Herrmann macht dafür Geschichten verantwortlich: »Wer die Vergangenheit (…) vor allem in schlechtem Licht betrachtet, sieht auch für die Zukunft schwarz. Übertragen auf ganze Gesellschaften, könnte das bedeuten: Wenn die kollektive Erinnerung vor allem aus Kriegen und Katastrophen besteht, fallen auch Zukunftsvisionen entsprechend düster aus.«   

Konkret fordert der Journalist: »Um positive Visionen für die kollektive Zukunft der Menschen wachsen zu lassen, um Geschichten der Zuversicht in die Welt zu entlassen, sollte den Errungenschaften, Leistungen und Glücksmomenten der Menschheit in der Erinnerung und der Diskussion mehr Raum gestattet werden.«

Mit dieser Forderung reichen sich Sebastian Herrmann und der Schwede Hans Rosling im Geist die Hand. Sein Leben lang kämpfte der Gesundheitsforscher Rosling dagegen an, dass wir die Welt zu düster und zu schematisch sehen und unsere Erzählungen darauf aufbauen. Wieder und wieder verpackte er Daten und Fakten, Beweise und Hintergrundinformationen in positive Geschichten über den Zustand der Welt, um ein Umdenken in der Öffentlichkeit, vor allem aber bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidern, herbeizuführen.

Buchtipp Als letztes Vermächtnis dieses Bestrebens veröffentlichten Ola Rosling und Anna Rosling Rönner, Sohn und Schwiegertochter von Hans Rosling und Mitbegründer der Gapminder Stiftung, das Buch »Factfullness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«. Hans Rosling verstarb noch vor der Veröffentlichung – es ist der letzte Versuch Roslings, Einfluss zu nehmen auf die Art und Weise, wie wir über diese Welt erzählen. 

Von vorne erzählen

Wo Sebastian Herrmann und Hans Rosling aufhören, da beginnt Jens Beckert. Denn der Soziologe und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung blickt auf der Suche nach Geschichten für die Zukunft nicht nach hinten in die Vergangenheit, sondern nach vorne.

Beckert widmet das Motto der Historiker – »history matters« – um in »future matters« und prognostiziert, dass die Geschichten, die wir über die Zukunft erzählen, diese auch bestimmen werden. In seinem Buch »Imagined Futures« wirft Beckert einen kritischen Blick auf die Dynamiken des Kapitalismus. Im Zentrum seiner Analyse stehen die fiktionalen Erwartungen (»Fictional Expectations«) der Teilnehmer des Kapitalmarkts und die Narrative darüber, was die Zukunft bringen wird. Laut Beckert sind diese »Fictional Expectations« zwar Zukunftsvisionen, sie werden aber von den sozialen Akteuren so behandelt, als wären sie bereits Realität. So wirken sie massiv auf das »Heute« ein und prägen das Verhalten bereits in der Gegenwart. Viele Akteure gehen sogar so weit, so Beckert, dass sie alles versuchen, um mit ihren Entscheidungen die Imaginationen und Narrative der Zukunft »wahr« werden lassen.

Vorstellungen und Erzählungen über die Zukunft sind also ganz entscheidend für das Verhalten in der Gegenwart und haben Einfluss darauf, wie sich die Zukunft tatsächlich entwickeln wird. Vor diesem Hintergrund sollten die Dystopien, die wir aus unzähligen Science-Fiction-Erzählungen kennen, erschrecken und alarmieren.

In dem Storytelling-Projekt »Future Visions« stellte Microsoft in anschaulicher Weise dar, wie sich Computerwissenschaftler, Ingenieure und viele andere wissenschaftliche Bereiche von Science-Fiction Romanen und Filmen positiv inspirieren ließen, aber das Gesamtbild, das wir uns von der Zukunft in Erzählungen und Filmen wie »1984« (Autor: George Orwell, 1949), »Die drei Sonnen« (Autor: Liu Cixin, 2006), »Metropolis« (Regie: Fritz Lang, 1927), »Terminator« (Regie: James Cameron, 1984), oder »Blade Runner 2049« (Regie: Denis Villeneuve, 2017) erzählen, ist doch ein erschreckendes.

Wenn das die Zukunft ist, wollen wir sie tatsächlich erleben? Wollen wir heute für so eine Welt in der Zukunft arbeiten, forschen, entwickeln?

»The ability to dream up and spread these solutions lives or dies on the ability to tell great stories that inspire people to think differently. Nothing is more urgent than that right now. « – Jonah Sachs

Vielleicht ist es an der Zeit, neue Narrative und Geschichten zu erzählen, die uns von einer anderen Zukunft erzählen, einer Zukunft, die lebenswert und liebenswert ist und für die sich der ganze Einsatz heute lohnt. Also, welche Geschichte möchtet ihr erzählen?