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Wer?„Ich, Eisner!"

Live On Stage: Matthias Leitner – heute im Plot-Interview

REVOLUTION IM MESSENGER!

Vier Monate, mehr als 15.000 Nutzerinnen und Nutzer, mehr als 250 verschickte Nachrichten in Bild, Text, Video und Audio, über 100 Archivbilder, tausende Nachrichten aus aller Welt: Das war das Projekt „Ich, Eisner!“, in dem der bayerische Revolutionär und der erste Ministerpräsident des Freistaat Bayern Kurt Eisner seine eigene Geschichte via Messenger erzählt hat.

 

Interview von Gerhard Maier

Woher kam die Idee für „Ich, Eisner!“?

Wir wollten auf Messenger-Diensten eine komplexe und dramaturgisch geformte Geschichte erzählen. Das Thema „100 Jahre Revolution in Bayern“ hatten wir sehr schnell als idealen Rahmen im Blick. Es gab bereits verschiedene Projekte, die Geschichte digital erfahrbar machen wollten, vor allem auch auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter. Die meisten dieser Projekte haben stark chronistisch und auf Fakten konzentriert gearbeitet, quasi News-Updates aus der Vergangenheit geschickt. Für uns war der persönliche Zugang über einen Erzähler sehr wichtig. Kurt Eisner höchstpersönlich erzählt seine Geschichte, und der ideale Ort für diese narrative Form ist heutzutage der Messenger. Dort organisieren wir unser Familienleben, dort kommunizieren wir mit unseren Freunden, dort planen wir unseren Urlaub. Uns war klar, dass wir mit unserem Projekt in diesem Umfeld stattfinden wollen. 

 

Wie habt ihr die Idee dann zu einem fertigen Projekt entwickelt?

Wir haben das Projekt in einem Writer`s Room entwickelt. Im Referat „Digitale Entwicklungen & Social Media“ des Bayerischen Rundfunk denken wir dabei in einer Art Dreiecksstruktur mit den Eckpunkten: Inhalt, Nutzer/Nutzerin und Technik – diese drei Punkte müssen miteinander harmonieren. Jeder Eckpunkt ist als Zugang zu einem Projekt legitim, ich persönlich komme zumeist vom Inhalt, bei „Ich, Eisner!” sind wir aber seitens der Technik gekommen: Wir wollten beweisen, dass es möglich ist auf Messenger-Diensten wie WhatsApp oder Telegram ein Narrativ zu setzen, das mehr ist als schnödes Marketing und mehr als nur eine kurze Aktion. 

 

Wie lange war der Entwicklungsprozess für dieses Projekt?

Zum ersten Mal habe ich in einer unserer Ideation-Sitzungen, in der wir als Team erste Ideen besprechen, das Thema Messenger-Storytelling eingebracht, das war im Herbst 2017. Grünes Licht für ein Pilotprojekt dazu gab es dann im Januar 2018, das erste Grobkonzept ist im Februar entstanden, den Writer’s Room haben wir ab März belebt und direkt damit angefangen einen Prototypen zu bauen, den wir dann im Juni mit 30 Testnutzer*innen auf Herz und Nieren geprüft haben. Der Start des Projektes war im Oktober 2018 und das Ende im Februar 2019. 

Wie sah die Prototyping-Phase aus?

Der Prototyp war eine Simulation über eine Woche hinweg mit 30 Nutzer*innen, alles direkt in einem Messengerkanal unter Realbedingungen. Mit einem Mix aus Inhalten, Texten, Bildern in dem Look&Feel, der dann später auch verwendet wurden. In der Version noch war unsere Erzählhaltung aber noch wesentlich stärker

historisierend, unsere Erzählfigur Kurt Eisner hat damals noch so geschrieben wie sich die Texte des realen Kurt Eisners lesen. Schließlich haben wir dann eine qualitative Nutzerbefragung gemacht. Zu dem Zeitpunkt war das weitere Vorgehen noch offen und unsere wichtigste Frage war: Wollen die Nutzer*innen ein Projekt dieser Art überhaupt? Wenn nein, dann machen wir das natürlich auch nicht.

Die Rückmeldungen waren aber äußerst positiv und wir haben gelernt, dass sich die Nutzer*innen unseren Kurt Eisner als modernen Erzähler mit heutiger Sprache wünschen, dass unsere Dynamik im versandt der Inhalte noch überarbeitet werden muss, dass fünf Nachrichten am Tag schlicht zu viel sind und das unsere Texte gerne noch länger werden dürfen.

 

Wie groß war das Team in der Entstehungsphase?

Im Kern waren wir drei Leute, die verschiedene Aufgaben übernommen haben, neben mir noch meine Kolleginnen Eva Deinert und Markus Köbnik. Wir waren bei dem Projekt AutorInnen, RegisseurInnen und ProduzentInnen, Community Managerinnen und vieles mehr. Wir haben uns dann additiv Leute dazu geholt, beispielsweise für Videoanimationen, für Tonaufnahmen, für Grafiken.

 

Wie habt ihr das Projekt evaluiert?

Der Nutzertest wurde mit Hilfe einer qualitativen Umfrage ausgewertet, Und während der Projektlaufzeit haben wir laufend Feedback unserer Nutzerinnen bekommen. Wir haben das Feedback parallel zum Projekt ausgewertet und vieles auch direkt umgesetzt, beispielsweise Textlängen, Inhalte und Publikationsrhythmus ständig adjustiert. Kurz vor Ende gab es dann noch eine Nutzerumfrage dazu, ob Leute mehr auf diesem Kanal sehen wollen, mehr historische Figuren kennenlernen wollen oder andere Inhalte kommuniziert bekommen möchten. Oder aber auch, ob sie mehr Links und Hinweise hätten, war es zu viel oder zu wenig Content, welcher Zuschnitt? Die Ergebnisse haben wir dann genommen, um auch auf unsere anderen Angebote zu schauen. Das allerwichtigste war aber der ständige Dialog mit unseren Nutzer*innen die ja täglich mit Kurt Eisner, also letztlich uns, direkt kommunizieren konnten und das auch stark genutzt haben.

Was habt ihr am meisten mitgenommen für weitere Projekte?

Für uns war es sehr interessant zu lernen wie Chatbots funktionieren. Chatbots sind ja maximal unironisch, kontextblind und antworten immer hart an der Kante zur Themaverfehlung. Es war für uns sehr interessant parallel einen Chatbot zu pflegen und ihn so intelligent zu gestalten, dass er uns tatsächlich Last abnimmt. Wir hatten insgesamt mehr als 30.000 Kommunikationen, von denen uns der Chatbot 20.000 abgenommen hat – nachdem er gut gepflegt war.

Wir haben parallel ein Community Management-Dokument mit 30 Standardantworten aufgesetzt, die wir dann angepasst haben um sie auf den jeweiligen Nutzer individuell „zuzuschreiben“ – also um Kontext hineinzubringen oder Ironie mitzuverarbeiten um einen anständigen Dialog zu führen. Und natürlich haben wir wahnsinnig viele Frage direkt als Autor*innen beantwortet. Es war interessant, dass wir da eine sehr wertige Form von Dialog hatten. Das, was man auf Twitter und Facebook nur schwer herstellen kann, weil da ein großer Resonanzraum ist, wo jeder Missklang in der Kommunikation sofort zu einem sehr großen Echo führt. In der 1 zu1-Kommunikation lief das alles auf einem sehr fundierten und profunden Level ab. Das war für uns eine schöne Erkenntnis, weil es heißt, dass es möglich ist auch komplexe Themen in einem guten Dialog, beziehungsweise in einem einvernehmlichen demokratischen Miteinander zu erzählen. 

Zudem waren wir unabhängig von Algorithmen. Wir haben uns ja bewusst gegen Facebook und Twitter entschieden, da Inhalte die dramaturgisch für den Nutzer wichtig sind nicht automatisch bei ihm ankommen, auch wenn er uns folgt, weil er laut Algorithmus nicht werberelevant ist. Ein emotionales Learning war, dass die Nutzer nach drei Monaten eine unglaubliche emotionale Nähe zu Kurt Eisner als Erzähler aufgebaut haben und wir deswegen das Projekt nicht so abschließen konnten wie geplant, nämlich mit dem Tod von Kurt Eisner am 21.Februar 1919. Dadurch, dass an Weihnachten ein paar hundert Nachrichten reinkamen mit Weihnachtswünschen für Kurt und für uns, haben wir das Ende komplett neu erarbeitet. Die Offenheit und die Möglichkeit der Improvisation zu haben, um auf so etwas explizit reagieren zu können ist natürlich schön.

 

Was war die Altersstruktur und der Altersdurchschnitt bei diesem Projekt?

Kernzielgruppe war die Bayern 2-Zielgruppe. Diese wurde einmal deskriptiv erfasst und ist stark weibliche geprägt um die 40 Jahre alt, berufstätig, bei höherem Bildungsabschluss. Das ist eine der Zielgruppe, die wir dominant mit unserem Projekt erreicht haben. Das ist auch bei unserer Umfrage herausgekommen, bei der 30 % unserer Teilnehmer*innen mitgemacht haben. Die nächste große Gruppe waren Studentinnen, darauffolgend Schülerinnen. Schön war auch zu sehen, dass die Menschen meist über persönliche Empfehlung auf das Projekt gestoßen sind.

 

Liegt der zivile Austausch auch an dieser Zielgruppe?

Sicher ist das auch ein Faktor. Dazu kommt auch die Anmutung unseres Projekts und die Art und Weise wie unser Kurt Eisner selbst kommuniziert hat. Dominant ist aber sicher auch die Messenger-Technik und wie Kommunikation dort gestaltet wird. Dadurch, dass Messenger kein großer Resonanzraum sind sondern alles in einzelnen Dialogen abläuft ist das für Trolle jeder Art kein natürliches Biotop, weil sie keine öffentliche Resonanz bekommen. 

 

Was habt ihr von dem Projekt gelernt? Gibt es etwas, was ihr beim nächsten Mal anders machen würdet?

„Ich, Eisner!“ war vor allem auch bei Lehrer*innen und Schüler*innen sehr erfolgreich. Viele Lehrkräfte haben uns dann angeschrieben und gefragt, wie sie „Ich, Eisner!“ am Besten im Unterricht einsetzen können, ob wir dazu Ideen haben. Über diese Frage hatten wir aber im Vorfeld nicht lange genug nachgedacht, bei künftigen Projekten würden wir also schon in der Konzeptphase damit beginnen uns Gedanken über die Schulpädagogische Begleitung eines solchen Projekts zu machen. 

 

„Ich, Eisner!“ wurde aktuell für den Prix Europa nominiert und wurde bereits mit dem Deutschen Digitalaward 2019 in Bronze und dem 1. Preis beim Wettbewerb „Pressefreiheit“ des Bayerischen Journalistenverbandes ausgezeichnet. Eine Projektdokumentation und weiterführende Materialien zum Projekt gibt es hier: https://www.br.de/extra/themen-highlights/kurt-eisner-revolution-bayern-whatsapp-100.html

 

Matthias Leitner ist Digital Storyteller und entwickelt Social Impact-Strategien für Unternehmen, NGOs, Stiftungen und die öffentliche Hand. Für den Bayerischen Rundfunk leitet er seit 2015 das Storytelling Lab web:first und entwickelt im Referat Digitale Entwicklungen & Social Media Programminnovationen wie den #callforpodcast oder das Messenger-Projekt #icheisner. Für seine journalistische Arbeit hat er diverse Auszeichnungen erhalten, die Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes hat Matthias Leitner 2017 zum Fellow berufen.

www.matthias-leitner.de

Twitter: @mtleitner