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Hochkant sollt ihr schauen! Vom Siegeszug des vertikalen Videoformats

Text von Gerhard Maier

Vom geschmähten Format, das nur in der Hitze des Video-Gefechts von Amateuren genutzt wurde, hin zum Siegeszug auf mobilen Kanälen – vertikale Videos auf Mobiltelefonen werden in Zeiten von Instagram Stories, TikTok und Snapchat von der Ausnahme zur Regel. Doch selbst Filmtheoretiker Sergei Eisenstein mutmaßte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die „virile Kraft des Vertikalen“.

Es ist gut 20 Jahre her, als ich mit einem Freund, der soeben die Aufnahmebestätigung für die Filmhochschule erhalten hatte, selbstgefällig über die vermeintlich einflussreichsten Szenen der Filmgeschichte sinnierte: Von CITIZEN KANE bis 2001, von TRUE ROMANCE bis SIX-STRING SAMURAI spielten wir uns Szenen vor, stets begleitet von der einhelligen Meinung, dass vertikale Einstellungen keine Daseinsberechtigung hätten und das extrabreite CinemaScope-Format die einzig wahre Filmerfahrung sei.

Dass knapp zwei Jahrzehnte später eine technologische Erneuerung filmisches Erzählen im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellen würde, konnte niemand ahnen. Dass der große Filmtheoretiker Sergei Eisenstein bereits 1930 von der „männlichen, virilen, aktiven vertikalen Komposition“ fabulierte, wussten wir in post-pubertärer Überheblichkeit ebenso wenig. Eisenstein argumentierte, dass das lange übliche 4:3 Format des Kinos nur ein Überbleibsel der elitären Kunstwelt des Westens sei und verwies auf die Bildrollen Chinas und Japan, die beiden Formaten Platz einräumten.

 

Vertikal = Viril

Der horizontale Bias des Kinos ist jedoch mehr als nur (kunst)historisch bedingt, er ist biologisch verankert: Das menschliche Auge besitzt evolutionär bedingt mehr Muskeln, um horizontalen Bewegungen zu folgen, als vertikal zu scannen. Eisenstein gedachte, das inhärente Ungleichgewicht des 4:3 noch durch das „dynamische Quadrat“ zu ersetzen.  Die Entwicklung ging jedoch in die Breite: Nach dem sogenannten Academy Ratio 1,375:1 sollte mit den anamorphen Formaten wie CinemaScope die epische Wucht des Kinos gegenüber dem Emporkömmling und neuen Unterhaltungsliebling Fernsehen betont werden.

Doch mit dem Siegeszug des Smartphones – ironischerweise oft immer noch beworben mit den Bildschirmformaten des Kinos, obwohl laut einer Umfrage Nutzer ihr Gerät 94% der Zeit vertikal halten – dreht sich die Welt. Der meiste Video Content auf Smartphones wird über Social Media konsumiert, Social Media zu 80% auf Smartphones genutzt – und Content passt sich, einem Chamäleon gleich und von technologischer Entwicklung getrieben, den Gegebenheiten an: Er nimmt die Form an, in der er von möglichst vielen Menschen konsumiert werden kann. Egal ob Facebook, Instagram, Snapchat, Twitter oder TikTok – die organische Immersion und der Flow zwischen Content schauen und darauf reagieren hat zur Proliferierung des vertikalen Formats geführt, denn das Drehen des Bildschirms, um im Querformat zu schauen, wird immer mehr zur Ausnahme.

Vertikal = Engaging

Gleichzeitig verspricht das vertikale Format weniger Ablenkung als ein geteilter Bildschirm. Wenn es somit darum geht, Aufmerksamkeit einzufangen, hat vertikale Ausrichtung klare Vorteile: Die Konversionsrate von vertikalen Videoanzeigen auf Snapchat ist neunmal so hoch wie die von horizontalen Anzeigen. Ähnliche Erfahrungen machte Jason Stein, CEO von Laundry Service, beim Vergleich von vertikal versus horizontal auf Facebook: Dreimal höher lag hier das Engagement.

Doch auch abgesehen von der Wirksamkeit von Werbung setzt sich das vertikale Format immer stärker durch. Jeffrey Katzenberg, einst CEO von Disney und jetzt in der Führungsetage des Start Ups Quibi tätig, setzt ganz auf Vertikalität als Format der Zukunft: Für seine Mobile Video-Plattform, die von sämtlichen großen Hollywood Studios mitfinanziert wird, ist vertikal das höchste Credo. „Leute wollen ihre Telefone nicht drehen!“ so das Hauptargument, das er auf der diesjährigen SXSW predigte.

Der norwegische öffentlich-rechtliche Sender NRK, der zuletzt immer als Hort der Innovation mit neuen Formaten und Ideen experimentierte, griff in der interaktiven Doku BYGDA SOM SA NEI auf vertikale Videoformate zurück, während sich in China und Südkorea vertikale Serienformate in Windeseile als eigenständiges Genre durchgesetzt haben.

 

Vertikal=Herausforderung

Während viele klassischere Herangehensweisen noch Handlung und Ausschnitt dem ungewohnten Format anpassen, dekonstruiert man die überkommene Bildsprache in diesen Serien mit Split Screens, Übergängen und ungewöhnlichen Kompositionen sehr viel radikaler. Oder wie es National Geographic-Filmer James Williams ausdrückte: „Du lernst den Raum sehr effektiv zu nutzen in Hinblick darauf, wie Du die Szenen anlegst oder was Du in den Fokus stellst. Wenn man die Seiten abschneidet, muss man komplett neu darüber nachdenken, wie man den Rahmen setzt – für mich die größte Herausforderung.“

Eines der Vorurteile, von denen er sich trennen musste, spiegelt das generelle Problem wider, das lange Zeit mit vertikalen Videos einherging: Sie wurden als amateurhaft angesehen. Womit gleichzeitig eine besondere Stärke hervorzutreten scheint, denn in Sachen Authentizität und Unmittelbarkeit, derer zu Gunsten Komposition und Ästhetik vermeintlich zurücktreten, wird das „Einfangen des subjektiven Moments“ klarer kommuniziert.  Es bleibt schlicht keine Zeit, das Gerät zu drehen.

Das, was Max Schleser 2012 in Hinblick auf das Smartphone als Aufnahmegerät noch als Möglichkeit sah, nämlich „persönliche Narrative und Repräsentationen des Selbst“ zu erschaffen, wird dabei umgekehrt: Viele Filmemacher denken angestrengt darüber nach, wie man mit professionellem Equipment effektiv vertikale Aufnahmen kreiert, um das Amateurhafte und Persönliche auf eine neue Ebene zu hieven. Gleichzeitig verwischen technologische Lösungen wie Bildstablilisation und HD-Settings zunehmend die Grenze zwischen Amateur und Profi sowie zwischen Aufnahme- und Abspielgeräten. (Und letztlich zwischen Virtualität und Realität, sowie Fiktion und Fakt.)

Von der digitalen Umgangssprache zum eigenen Genre

Das, was vor nur fünf Jahren noch als „Format der digitalen Umgangssprache“ bezeichnet wurde, scheint Sehgewohnheiten nachhaltig zu verändern. Wurden Festivals wie das Vertical Film Festival von Puristen des Horizontalen noch als Gimmicks betrachtet und die Filme des Vertikalpioniers Paolo Gioli in den siebziger Jahren noch  als Experiment des Experiment wegens links liegen gelassen, verschiebt sich nun das Machtverhältnis zwischen kulturellem und technologischem Habitus in Richtung von letzterem. Wenn selbst das ansonsten leicht behäbige ZDF ein zukunftsgerichtetes Vertical Motion Studio einrichtet, ist die Richtung, in die sich mobiler Video Content entwickelt, deutlich.

Ebenso wie die Streaming-Technologie in den kommenden Jahren radikal die Art, was wir wie wo sehen, verändern wird, so wird auch das neue Format neue Anwendungen und Subjekte finden. Filmemacher Christoph A. Geiseler äußerte sich in seiner Dokumentation CURRY POWDER (2012) dazu, dass „Musiker auf der Bühne, Models auf dem Laufsteg, Zugschienen, die in der Ferne verschwinden, Close-Up Porträts, Wolkenkratzer und Bäume betteln um vertikale Videos, um ihre inhärente Schönheit einzufangen: Die Essenz ihrer Form und Funktion ist vertikal.“

Filme wie David Neals’ experimenteller ALICEWINKS, Evan Scott Mores’ verspielter BIRD MURDERER, der visuell beeindruckende ADDENDUM oder der mehrfach preisgekrönte IMPACT zeigen wie Bildauswahl, Thema und Produktion nach Ausdrucksformen suchen. Chinesische Serien sind währenddessen dabei, Genre und Format zu perfektionieren: Ultrakurze Episoden und eine stark fragmentierte visuelle Sprache aus schnellen Schnitten, Split Screens und Schwenks kommt den kurzen Aufmerksamkeitsspannen des Publikums entgegen, während der halsbrecherische Rhythmus aus flotter Erzählweise, abrupten Wendungen und explosionsartiger Verdichtung von Handlung für Storytelling-Druckbetankung sorgt.

Nicht ganz so radikal zeigen sich die Snap Originals, die seit letztem Jahr fiktive und dokumentarische Inhalte auf Snapchat präsentieren. Doch mit einer wachsenden Auswahl von Titeln, thematisch an eine junge Zielgruppe angepasst, wird auch hier deutlich, dass vertikale Videos an der Front von wertigeren, professionellen Produktionen zum Siegeszug über die horizontalen mobilen Formate ansetzen.   

Wo sich heute Kunst und Entertainment ausprobieren, profitiert morgen Unternehmenskommunikation und Marketing – vollkommen neue Möglichkeiten der Bewegtbild-Kommunikation eröffnen sich – und einige davon sind auf Plot19, dem Storytelling Forum am 6.9. in München schon zu sehen: Schauen Sie rein – am besten vertical – www.whattheplot.com