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Des Pudels Kern – Core Stories und andere Wirrungen

2017 sah sich der Focus genötigt, zu erklären, welche Bedeutung hinter dem Begriff „Des Pudels Kern“ steckt. Als Literaturwissenschaftler ist man geschockt, dass hier tatsächlich Erklärungsbedarf herrscht. Die Schlüsselszene aus Goethes Faust, aus der dieses Zitat stammt, sollte zur Allgemeinbildung gehören, schließlich ist das Werk Pflichtlektüre an Deutschlands Schulen. Und doch klafft da eine riesige Lücke, denn – Hand aufs Herz – wer hat seinen Faust tatsächlich gelesen? 

Unbedarft oder gar dreist?

Mit dem Bewusstsein um das rudimentäre Basiswissen aus dem Deutschunterricht, erstaunt es, mit welcher Unbedarftheit heutzutage Fachtermini aus Literaturwissenschaft und Filmphilologie benutzt werden. Da fallen Begriffe wie „Narrativ“, „Plot“, „Storytelling“, „Heldenreise“ oder „Grenzüberschreitung“. Aus Marketing wird „narratives Management“, aus „Storytelling wird „Storylistening“ und „Storydoing“ und englische Begriffe werden munter mit deutschen vermischt. 

Sprach- und Literaturwissenschaftler reiben sich verdutzt die Augen. Man freut sich zwar über die Aufmerksamkeit und das Interesse, das plötzlich bei Kommunikationsprofis, Beratern, Marketingmanagern, und Führungskräften aufflammt. Gleichzeitig irritiert aber die inflationäre Nutzung und die unreflektierte Wiedergabe dieser Fachbegriffe, Texttheorien und literaturwissenschaftlichen Modelle.

Nun sind Sprach- und Literaturwissenschaftler*innen eigentlich entspannte Typen. Selten sind sie Dogmatiker, denn sie wissen, dass eine Geisteswissenschaft wie die ihre mit dem Geist der Zeit gehen muss und nicht an ultimative Wahrheiten und Gesetze gebunden ist. Aber legitimiert diese Flexibilität, dass man die Fachtermini der Philologie einfach einsetzen kann, wie man will? Käme es umgekehrt denn einem Manager in den Sinn, den „Energieerhaltungssatz“ und die „Gravitationskonstante“ einfach mal so in eine Präsentation einzubauen, ohne Kenntnis über diese Begriffe?

Sie merken, eine gewisse Bitternis schwingt hier mit. Doch soll der Ärger ob der Naivität – oder auch der Dreistigkeit – mit der literatur- und filmwissenschaftliche Fachbegriffe derzeit verwendet werden, konstruktiv genutzt werden … Wir wollen hier aufklären: Was steckt hinter Begriffen wie „Narrativ“, „Story“, „Plot“ oder „Core Story“? Was also ist der „Pudels Kern“ des Storytellings? 

Story versus Narrativ

Fangen wir mit Grundsätzlichem an. In Werberatgebern ist häufig von „Story“ die Rede und von „Narrativ“. Manche Autoren unterscheiden die Begriffe, andere nicht. Dabei wäre eine Differenzierung wohltuend, allein schon, weil hier ein englischer Begriff mit einem deutschen Wort, lateinischen Ursprungs in einen Topf geworfen wird („narrare“ heißt „erzählen). 

Wer unter „Narrativ“ eine „Story“, also eine „Erzählung“ und damit eine „Geschichte“ versteht, der liegt ganz richtig. Wichtig ist dabei nur zu wissen, was eine „Geschichte“ von anderen Textgattungen, wie Bericht oder Protokoll, unterscheidet. Wer es genau wissen will, der schlage nach bei der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Annika Schach, die zwischen „ergebnisorientierten Vertextungsmustern“ und „erlebnisorientierten Vertextungsmustern“ unterscheidet. Letzteres sind „Geschichten“, „Erzählungen“, „Stories“. Es sind Texte, die Auskunft geben über einen Ort und einen Zeitraum, die eine oder mehrere Personen einführen, die Personen beschreiben, die etwas erleben. Im Gegensatz zu ergebnisorientierten Texten, die neutral, ort- und zeitunabhängig erzählt werden, sind erlebnisorientierte Texte in der Regel subjektiv und enthalten emotionale, textästhetischen Elemente. Das sind die Kriterien für „Stories“ – für Texte, Filme, Instastories und Facebookposts, die erzählen.

Es sind allerdings keine Kriterien, die ein „Narrativ“ beschreiben. Dieser Fachbegriff ist einer ganz bestimmten Art der „Erzählung“ vorbehalten. „Narrative“ müssen – im Gegensatz zur „Story“ – keinen Ort oder konkreten Zeitpunkt nennen. Sie folgen auch selten bestimmten Strukturen wie etwa Aristoteles Grundstruktur: „Anfang, Mitte und Ende“. 

Seit Anfang der 80er-Jahre verwenden Kommunikationswissenschaftler den Begriff „Narrativ“ für mehr als das, was im Duden steht. Aus dem neutralen Wort „erzählend“ wird heute im Geist von Jean-François Lyotard, dem Gründervater der Postmoderne, eine „grand récits“, eine Metaerzählung, ein übergeordnetes Thema, eine sinnstiftende Erzählung. 

Es sind Helden- oder Entwicklungsgeschichten, die für Gruppen, Gemeinschaften und auch Nationen bedeutsam und gemeinschaftsstiftend wirken. Narrative sind Grundmotive wie „Gut und Böse“, „Mensch versus Maschine“, „Einer für alle, alle für einen“. Mit ihnen wird nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern tausende. Über Generationen hinweg wird ein Narrativ in immer neuen Varianten erzählt und weitererzählt. Man denke nur an das Narrativ „Mensch versus Maschine“. Dessen Anfänge liegen in der griechischen Mythologie und im Mittelalter. „GOLEM“ ist eine von Menschen gemachten Lehmfigur in der jüdischen Mythologie, die zum Leben erweckt wird. Auch in FRANKENSTEIN (1823) geht es um so eine Menschfigur, Fritz Lang´s Roboterfrau in METROPOLIS (1927) ist ebenso ein Zwitter aus Mensch und Maschine, James Camerons TERMINATOR (1985) ebenso, wie auch die künstliche Intelligenz in EX MACHINA von Alex Garland (2015). Dieses Grundmotiv ist so alt und tief verwurzelt, dass jegliche Diskussion zum Thema „Digitalisierung“ vor dem Hintergrund dieses Narrativs betrachtet werden muss.

Narrative wirken sinnstiftend und sie schweißen Gruppen zusammen. Religionen beziehen sich auf eine Ur-Erzählung (Bibel, Koran…), Nationen berufen sich auf „Historien“ und Sagen, wie etwa „Jeanne d´Arc“ für Franzosen oder die „Artussaga“ für Briten.

Die Unterschiede zwischen „Story“ und „Narrativ“ ist also gewaltig. Mit Sicherheit sind oder werden Sie Autor und Produzent einer guten „Story“ werden. Es wäre aber eine Jahrhunderterfolg, wenn Ihnen die Schöpfung eines „Narrativs“ gelingt.

„narrative“ versus „Narrative“

Bei der ganzen Verwirrung um Fachbegriffe sollte man auch klären, in welcher Landessprache gesprochen wird. Marketing und Unternehmenskommunikation liebt Englisch und Denglisch … and therefore … kommt es zu blöden Verwechslungen. 

Den Begriff „Storytelling“ haben wir Deutsche gleich mal adaptiert. Klingt auch professioneller als „Geschichten erzählen“, denn von den Gebrüdern Grimm haben wir gelernt, dass das fast gleichbedeutend ist mit „Märchen“ oder gar „Lügenmärchen“ erzählen. Zumindest klingt es nach „dick auftragen“. Dann lieber Englisch, also „Storytelling“. 

Kompliziert wird es, wenn bewusst oder aus Versehen der englische Begriff „narrative“ verwendet wird. Das Wort existiert als Verb und als Substantiv. Übersetzt man das Substantiv, dann heißt „narrative“ so viel wie Erzählung, historische Abhandlung, Geschichte und – spätestens jetzt schwirrt der Kopf – Bericht oder Schilderung. Das Verb „narrative“ heißt übersetzt „erzählend“ oder „erzählerisch“ (ach ja, und da es in der englischen Sprache keine Groß- und Kleinschreibung gibt, ist meist nicht klar, ob Verb oder Substantiv gemeint ist). 

Also aufgepasst, wenn Sie dem „narrative“ begegnen. Vergewissern Sie sich, welche Landessprache hier gesprochen wird. Ist es Englisch, na dann gibt es Interpretationsspielraum. Ist es Deutsch, dann ist hoffentlich die große Metaerzählung gemeint, für die das lateinische „Narrativ“ steht.

Core Story versus Narrativ

Und das bringt uns zum „Pudels Kern“: Immer häufiger sprechen Unternehmenskommunikatoren von der „Core Story“ oder dem „Narrativ einer Marke“. Was ist hier gemeint? Marshall Bowden bringt die Grundidee schön auf den Punkt: „A great brand doesn’t start with a product. It doesn’t start with a business plan. Every big idea, every legendary brand, begins as a story.” 

Klingt gut, oder? Doch so schön sich das Zitat auch anhört, es macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Denn am Beginn einer Marke steht nicht die sogenannte „Core Story“. Am Anfang steht die „Gründer-Story“. Also die Geschichte, wie alles begann – mit Ortsangabe, Zeitpunkt und handelnden Personen. 

Grundlage der Gründerstory kann ein „Narrativ“ sein, also eine sinnstiftende Erzählung. Dann nämlich, wenn die Marke, das Produkt oder die Dienstleistung die Antwort auf eine seit Generationen gestellte Frage bietet – zum Beispiel: „Wie bekomme ich Zugang zu Wissen?“ Also genau jene Frage, die Faust stellt – und auf die Google heute eine Antwort hat.

Und erst dann – Sie ahnen es schon – kommt die sogenannte „Core Story“ ins Spiel. Markenkennern ist ein Teil dieses Fachbegriffes sehr vertraut, sie kennen nämlich die „Core Values“. Wieder einmal waren deutsche Marketingprofis zu faul oder zu raffiniert, um einen englischen Begriff zu übersetzten. Obwohl es so einfach ist. Die „Kern-Werte“ einer Marke definieren sie. Eine Marke zeichnet sich schließlich nicht nur durch ihre Gestaltung, ihr Corporate Design und ihr Logo aus, sondern auch durch die Werte, für die sie steht und die sie ihren Kunden verspricht. Diese „Core Values“, gemischt mit einer Prise „Gründermythos“ und ergänzt um das passende Narrativ – das ist die perfekte Mischung für eine „Core Story“. Des Pudels Kern, die „Core Story“ erklärt dann jedem Kunden und jeder Kundin, wofür eine Marke steht und warum sie es wert ist, dass man ihr vertraut, von ihr kauft und sie weiterempfiehlt.

Früher hatte man dafür Begriffe wie Markenkern, Markenversprechen oder Positionierung. „Core Story“ klingt moderner. Und in dem Begriff steckt auch ein wichtiger Hinweis und Anspruch. Der Kern soll nämlich erzählt werden. Eine „Core Story“ kann man nicht rational und ergebnisorientiert präsentieren, eine „Core Story“ verlangt nach der Kommunikationstechnik „Storytelling“. Nur so kann sie ihre kommunikative, emotionale und persuasive Kraft entfalten.

Storytelling versus Storydoing

Und damit sind wir bei einem neuen Liebling des Marketings und der Unternehmenskommunikation – und dieses Mal verlassen wir die Terminologie der Literaturwissenschaften, denn hier haben wir es definitiv mit Kunstworten zu tun, denen kein wissenschaftliches Verständnis anhaftet. 

Unternehmensberater fordern von Unternehmen ein Umdenken: statt „Storytelling“ soll mehr „Storylistening“ und „Storydoing“ praktiziert werden. Zwei Begriffe, die sich im Umfeld des Trends „Purpose Marketings“ tummeln, bei dem die Vermarkten von Produkten und Dienstleistungen auch gesellschafts-, umwelt- und sozialkritische Themen berücksichtigt.

So aktuell Purpose Marketing derzeit diskutiert wird, wirklich neu ist es aber gar nicht. Georg-Volkmar Graf Zedtwitz-Arnim, Kommunikationschef der BASF, veröffentlichte 1961 ein Buch mit dem Titel „Tu Gutes und rede darüber. Public Relations für die Wirtschaft“. Heute würde der Titel vielleicht heißen „Vom Storytelling zum Storydoing und umgekeht“. Schon Erich Kästner sagte: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Und so erscheint es ein bisschen albern, dass man vor das „Doing“ das Wort „Story“ setzen muss, nur um darauf aufmerksam zu machen, dass es allein mit Reden nicht getan ist. Aber zurück zu unserer Begriffsdefinition.

Story versus Plot

Denn da bleiben noch zwei Begriffe, mit denen Literatur- und Filmwissenschaftler ihre Studenten quälen: Story (oder Storyline) und Plot. Der Drehbuchautor Neil Landau erklärt die Unterschiede in seinem Basisratgeber „101 Things I learned in Film School“ anschaulich: „Plot is physical events; story is emotional events.” 

Der Plot ist alles, was tatsächlich – physisch – passiert. Da ist zum Beispiel die Heldenreise, die der Mythenforscher Joseph Campbell beschrieb. Laut Campbell erzählt sich die Menschheit seit 40.000 Jahre immer und immer wieder einen Monomythos, in dem ein Held seine vertraute Heimat verlässt, Abenteuer besteht und verändert zurückkehrt. Da sind aber auch die sieben Basis-Plots, die Christopher Booker gesammelt hat. Einer dieser Plots ist „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, ein anderer heißt „Reise und Rückkehr“. Millionen Geschichten lassen sich auf die sieben Plot-Muster, die Booker beschreibt, reduzieren. Es gibt aber auch unzählige weitere Geschichten, die jede für sich ein klein bisschen anders funktioniert. Auf jeden Fall haben „Plots“ etwas mit Juri Michailowitsch Lotman´s Grenzüberschreitung zu tun. Denn immer wenn ein Protagonist eine Schwelle oder Grenze überschreitet – physisch oder psychisch –wird eine Handlung losgetreten und der Plot nimmt seinen Lauf.

Die „Story“, im Gegensatz zum „Plot“, wie Neil Landau es oben nennt, oder besser gesagt, die „Storyline“, ist dagegen tiefgründiger. Sie hat viel damit zu tun, was Simon Sinek in seinem berühmten TED-Talk „Reason Why“ nennt, den Grund und Anlass einer Story. 

Geschichten werden nicht ohne Grund erzählt. Jeder Erzähler, jede Erzählerin hat ein Anliegen, das er oder sie mit der Geschichte vermitteln will. In der Regel ist dieser Anlass mehr als nur das Publikum zu unterhalten und für kurze Zeit abzulenken (Eskapismus). Geschichten lehren ihr Publikum etwas, sie zeigen Zusammenhänge, erläutern Hintergründe und vermitteln Erfahrungen. Jedes Märchen hat eine Moral und so jede Geschichte hat einen „Reason Why“, warum sie erzählt wird. 

Wer HARRY POTTER liest, erfährt viel über einen Jungen, der lernt sich in einer verborgenen Welt von Zauberern und Hexen zurecht zu finden (Plot). Wer Harry Potter liest, der lernt aber noch viel mehr darüber, wie wichtig Freundschaft ist. Dass man Ziele zusammen mit Freunden besser erreicht als alleine, dass man für Freunde einsteht und um sie kämpfen muss (Storyline).

Wer sich die Edeka-Story HEIMKOMMEN ansieht, der erfährt die Geschichte eines alten Mannes, der seine erwachsenen Kinder an Weihnachten mit einer fingierten Todesanzeige nach Hause lockt (Plot). Man sieht aber vor allem eine Story, die daran erinnert (und ermahnt), dass Weihnachten ein Fest der Familie ist und wie wichtig es ist, sich auf diese zu besinnen (Storyline). 

Oder wer sich die BIRKENSTORIES der Schuhmarke Birkenstock ansieht, der erfährt viel über die Lebenswege und Entscheidungen ungewöhnlicher Menschen (Plots), der lernt und erfährt aber auch mit jeder Geschichte, wie sehr es sich im Leben lohnt, unabhängig, unangepasst und entdeckungsfreudig zu sein und zu bleiben (Storyline).

“Storytelling is joke telling. It’s knowing your punchline, your ending, knowing that everything you’re saying, from the first sentence to the last, is leading to a singular goal, and ideally confirming some truth that deepens our understandings of who we are as human beings.” Andrew Stanton, Drehbuchautor bei Pixar und Autor der Filme TOY STORY oder WallE weiß, von was er spricht. Er weiß um die Bedeutung von „Story“, „Plot“ oder „Narrativ“. Sie ja jetzt auch. 

Wahrscheinlich wussten Sie das alles auch schon vorher. Wir wollten nur sicher gehen, dass wir uns verstehen – wenn wir von Storytelling sprechen. Denn das ist ja schließlich des Pudels Kern.

Ach ja: Goethes FAUST ist eine spannend erzählte „Story“, keine Frage. Man kann die Tragödie aber auch gleichsam als „Narrativ“ der Deutschen sehen. Noch. Ab 2021 ist Goethes Faust in NRW wohl keine Pflichtlektüre mehr. Stattdessen sollen Schüler NATHAN DER WEISE von Lessing verpflichtend lesen. 

Übrigens 2018 stand München ganz im Zeichen von Goethes Tragödie. Das Faust Festival begeisterte 25.000 Besucher in über 700 Veranstaltungen. Das aufmerksamkeitsstarke Corporate Design zum Festival wurde von dem Desingbüro abc&d gestaltet – dem Team, das auch Mitinitiator von Plot ist und hinter dem außergewöhnlichen Design von Plot steckt.