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Storytelling @ SXSW2019

Immersives Storytelling, experientielles Storytelling und die AI-Revolution – drei Beobachtungen zu Diskussionen und Erfahrungen auf der SXSW2019.

von Gerhard Maier

Wie jedes Jahr sammelten sich in Austin, Texas Anfang März eine Schar aus Technerds und Futurologen, Erfindern, Tüftlern und Start-Up-Optimisten, Marketing-Teams und Trend-Bloggern, Investoren und Firmenvertretern, Landesdelegationen und Freelancern. Das Ziel: Während der Interactive-Schiene der insgesamt 10-tägigen multithematischen Extravaganz sich über alle erdenklichen Ideen an den Schnittpunkten aus Technologie, Politik, Marketing, Gesundheitswesen, Webkultur, Film, Serie und Games auszutauschen.

Und ebenfalls wie jedes Jahr offenbarten sich die heißesten Themen bereits beim Blick auf das stets leicht überwältigende Programm aus Keynotes, Diskussionen und den unzähligen, darum herum kreisenden Satellitenveranstaltungen: Cannabusiness als blühender Wirtschaftszweig, Diversität und Gleichstellung in der post-#metoo-Ära, Identität, geistige Gesundheit und Fake News in Zeiten eines nachlassenden Vertrauens in die Selbstregulierungskräfte von Martkwirtschaft und Internet.

Eine große Rückkehr feierte – nachdem das Thema in den letzten fünf Jahren immer wieder zentral im Mittelpunkt der SXSW gestanden hatte – das Thema „Künstliche Intelligenz“. Dort wo ein halbes Jahrzehnt zuvor jedoch nur sehr allgemein über Möglichkeiten von machine learning und denkbare Anwendungen diskutiert wurde, rückten dieses Jahr sehr konkrete Nutzungsbeispiele und ebenso spezifische Probleme und Herausforderungen in den Mittelpunkt.

Was das alles mit Storytelling zu tun hat? Das sollen die folgenden drei Punkte kurz zusammenfassen.

  1. Go Experiential or Go Home!

Oder wie es Justin Reis von der lifestyligen Reisegepäckfirma Away prägnant auf den Punkt brachte: „If you want to build a business, build a business. If you want to build a brand, throw a party.“ Wie schon in den Jahren zuvor zog sich die Diskussion über experiential storytelling – also über das erlebbar machen von Marken und Fiktion, von Information und Kultur, von größeren Zusammenhängen und sehr spezifischen Perspektiven – als roter Faden durch die diesjährige SXSW. Während Marketingexperten mit etwas reißerischen Behauptungen wie „Experiential is the New Viral“ sehr konkrete Beispiele lieferten, wie sich Marken durch social experiential sponsorships wie Konferenzen und Fachtagungen im physischen Lebensraum ihrer Kunden manifestieren können oder die NASA zeigte wie sie experiential storytelling zur Wissensvermittlung nutzt, suchten die großen Entertainmentmarken wie üblich durch mal mehr, mal weniger gelungenes experientielles Marketing den Kontakt zum SXSW-Publikum.

Dort, wo im Jahr zuvor HBO mit dem preisgekrönten SXSWestworld noch eine neue Messlatte in Hinblick auf Aufwand und erzielter Wirkung gelegt hatte, gab es dieses Jahr weit weniger spektakuläre und konventionellere Aktionen zu bewundern. Unter dem Titel #bleedforthethrone verband die Werbeaktion für die letzte Staffel „Game Of Thrones“ geschickt emotional wuchtiges experientielles Storytelling mit sozialem Gewissen: Wer Eintritt haben wollte in den mit vielköpfigem Chor, Dutzenden Darstellern und viel Aufwand zum Leben erweckten Thronsaal der Red Keep, musste sich für eine gemeinsam mit dem Roten Kreuz ausgerichteten Aktion bereit erklären sein Blut zu spenden. Die Idee dahinter ist laut Trevor Guthrie der Agentur Giant Spoon die emotionale Bindung der Fans zur Serie auszuloten: „Was bist Du bereit für diese Erfahrung zu geben?“ Viel, wie es den Anschein hat, denn die limitierten Plätze waren innerhalb weniger Minuten reserviert, während die Aktion vom Roten Kreuz als Spendenaufruf höchst erfolgreich war.

Des sehr viel konventionelleren Katalogs des üblichen experientiellen SXSW-Marketings bediente sich Amazon für seine kommende Apokalypse-Comedy-Serie „Good Omens“: Ein Parkplatz wurde zum Garten Eden umgebaut, in dem es mit kostenloser Verpflegung, dem gewohnten Tausch von Instagram- und Facebook-Mentions gegen Merch-Goodies und thematisch passenden Fotogelegenheiten samt entsprechend teuflisch und himmlisch verkleideten Hostessen wenig wirklich Überraschendes zu entdecken gab. Denn wenn auch oft eine Nummer kleiner, so hatten „Mr. Robot“, „Preacher“, „American Gods“ oder „Twin Peaks“ in den Jahren zuvor mit ähnlichem Massnahmenkatalog aufgewartet: Foto-Opportunity und Merch, thematisch passend umgesetzt.

  1. Storytelling wird intelligent und persönlich

Anwendungen für jene Technologie-Entwicklungen, die einfachheithalber gerne als „Künstliche Intelligenz“ zusammengefasst werden, fanden sich 2019 in enormer Zahl: Von sehr spezifischen Fallbeispielen, wie die Verquickung von AI und VR neue Entertainmentformen hervorbringt, wie AI-Algorithmen zukünftig ultra-personalisierte Unterhaltung hervorbringen werden und wie die Zukunft des Storytellings von Künstlicher Intelligenz geprägt sein wird. Filme für AIs (mit denen Algorithmen für die Videokompressions optimiert werden) und Filme von AIs (wie der von Drehbuch-Bot Benjamin) sind nur offensichtlichere Ausprägungen, die Arbeit von Start-Ups wie Corto, die Neurowissenschaftliche Erkenntnisse, und machine learning vereinen um Content, Publikum und das Verhältnis zwischen beiden zu verstehen wird zukünftig sehr viel größere Auswirkungen auf das haben was wir sehen.

Die größten Veränderungen im Storytelling birgt jedoch ohne Frage die Entwicklung hin zu „Story Personalities“ – fiktionale Charaktere oder non-fiktionale Repräsentaten, die unmittelbar und eigenständig mit dem Rezipienten interagieren. Lance Weiler entwickelte für seine Installation „Frankenstein A.I.“ bereits einen algorithmischen, auf den Arbeiten von Mary Shelly basierenden Charakter, der mit den Besuchern des art experiences sprach und sie durch die Ausstellung führte. In einer Erweiterung dieser Idee baute Weilers Team „Frankenstein A.I.“ zum sogenannten dinner party experience um: menschliche Teilnehmer finden sich zum gemeinsamen Abendessen und Kennenlernen zusammen, jeder mit einem In Ear-Kopfhörer Ohr versehen. Während den Gesprächen erhalten die Partybesucher von dem AI-Charakter Fragen eingeflüstert, die sie ihrem Gegenüber stellen sollen. Die Grenze zwischen den Persönlichkeiten menschlicher und künstlicher Intelligenz sollen verschwimmen, der Zuhörer in Frage stellen, wer nun zu ihm spricht.

Der Ansatz, der dem „Dimensions in Testimony“-Projekt der USC Shoa Foundation zu Grunde liegt, nähert sich den „Story Personalities“ von anderer Seite: Die letzten Augenzeugen des Holocaust werden in den nächsten Jahren aussterben, ein Großteil der Aufklärungsarbeit über den Holocaust erfolgt über die  Auseinandersetzung mit den persönlichen Geschichten erfolgen. Vor allem in der Arbeit in Klassenzimmern, bei denen Schüler ihre Fragen an Holocaust-Überlebende richten können, ist wichtig. Heather Smith von StoryFile arbeitet daran aus den Elementen von Spracherkennungssoftware, Künstlicher Intelligenz und 360°-video Capture diese Art der unmittelbaren Interaktion mit Holocaust-Überlebenden zu bewahren. Deren Persönlichkeiten und Erzählungen sollen eingefangen und gespeichert werden, um daraus virtuelle Avatare zu erstellen, die in freien Gesprächssituationen ihre Erlebnisse auch zukünftig weitergeben können.

Einen ähnlichen, wenn auch ins rein fiktive zielenden Ansatz verfolgt Fable VR für die VR-Adaption des Kinderbuches „The Wolves In The Walls“ von Neil Gaiman und Dave McKean. Nicht Virtuelle Realität sei die nächste große Kunstform des 21. Jahrhunderts, sonder Virtuelle Wesen, so Fable-CEO Edward Saatchi. Für „Whispers In The Night“ (https://youtu.be/ksOgdvvLSCY )  soll dem Publikum eine Konversation mit Protagonistin Lucy ermöglicht werden. Nicht mehr in den restriktiven Grenzen herkömmlichen Game-Designs, in denen Autoren eine Anzahl möglicher Gesprächsverläufe antizipieren und umsetzen, sondern in einem revolutionär freien Format, das erster Ausblick über die Möglichkeiten persönlichkeitsbasierten Storytellings der unmittelbaren Zukunft sein wird. Die damit einhergehenden Herausforderungen für die Erschaffung dieser Virtual Beings und „Story Personalities“ aus Perspektive klassischen Storytellings scheinen klar: Charakter wird nicht mehr über konkrete Dialoge und Handlungen zum Ausdruck gebracht, sondern wird über eine Vielzahl verschiedener Formen eingegrenzt. Eine Art fuzzy writing von Seiten des Storytellers, der die technologischen Möglichkeiten des Mediums wie Spracherkennung, Bilderkennung und emergenten Reagierens kennen muss – sie sind der Baukasten für diese neue Art des Geschichtenerzählens.

  1. Maschinen erzählen

Einen Schritt weiter gedacht sind einige der Überlegungen, die auf dem Papier noch nach Scinece Ficiton klingen: Wann und wie wird künstliche Intelligenz selbst zur kreativen Kraft? Die Fallbeispiele auf der SXSW gehen noch klar in eine Richtung, die vom hier gebrauchten Vokabular zum Ausdruck gebracht wird. Denn von „enhancing creativity“, von „enabling creators“ ist hier die Rede, wenn beispielsweise Sony mit „Flow Machines“ seine Plug-Ins vorstellt, mit denen Musiker in webniger als fünf Minuten komplette Songs erstellen können oder Google Magenta zum 334. Geburtstag des Komponisten freie Bach-Kompositionen erstellt.

Die Frage nach dem Wert menschlichen kreativen Schaffens, nach Urheberrechten und dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine stellt sich auf der SXSW in vielen Formen. Nicht mehr nur hypothetisch sind die Überlegungen, die Douglas Eck von Google anstellt: Einen entsprechenden Algorithmus mit sämtlichen Beatles-Werken zu füttern und als Ergebnis Hunderttausende von Quasi- und Pseudo-Beatles-Stücken erhalten. Einen Weg in die Zukunft der Musik, die Spotify laut einigen Überlegungen in „Spotify Teardown“ bereits mit Nachdruck verfolgt (und die Tad Williams in seinem SF-Roman “Otherworld“ bereits vorwegnahm).  Dass was Coding/Künstler wie Mario Klingemann schon länger im visuellen Bereich gelingt, scheint in die nächste Phase von maschinengeneriertem Storytelling zu treten.

Einen der interessantesten Beiträge hierzu lieferte das Sapporo AI Lab: Der Dichter Gai Otsuka wählte aus 9.000 per Algorithmus erstellten Haiku-Gedichten jene aus, die den stilistischen Eigenarten dieser lyrischen form am Besten entsprachen. Hier zwei Beispiele, ein Gedicht vom Algorithmus erstellt, eines von einem menschlichen Dichter – welches ist welches? (Bei der Übersetzung ins Englische ging die klassische Silbenstruktur aus 5-7-5 leider verloren)

 

Haiku #1

Like sunlight

Piercing through the heavy frost

The person at the shore

 

Haiku #2

Ah, to watch

The white heron in the wind

From the tatami floor

 

Wer ist Mensch, wer Maschine? Ist natürlich eine Fangfrage – beide Gedichte stammen vom Algorithmus. Doch die Frage unserer eigenen Vorurteile gegenüber den Geschichte, die zukünftig von nicht-menschlicher Intelligenz entstehen, werden deutlich. Auch wenn demnächst Maschinen oder die eng verwobene Interaktionen zwischen Mensch und Maschine zu Storytellern werden, wie werden wir vermeintlich urmenschliche Eigenheiten kreativen Ausdrucks bewerten, wenn die Grenzen nicht mehr erkennbar sind?