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Von Storytelling in wilden Zeiten

Im Angesicht einer wahrlich außergewöhnlichen Situation kann Storytelling seine wahren Stärken zeigen – als Mittel der individuellen wie kollektiven Sinnstiftung. 

von Gerhard Maier

Mit dem Beisatz „Es sind verrückte Zeiten“ oder „May this message find you well in these wild times“ sind die beruflichen Emails der letzten Wochen meist versehen. Auch die Bekannten und Freunde, die man zufällig auf der Straße getroffen hat, erläutern im Mindestabstand von 1,50 Metern den Sachverhalt, dass es ein einschneidendes, historisches Ereignis ist, dem man beiwohnt. Selbst wenn es niemand so richtig vermag, den großen Schritt zurückzunehmen und eine Einschätzung der unmittelbaren und mittelfristigen Zukunft zu wagen – die Erkenntnis Zeuge einer großen Zäsur zu sein, teilt jeder der Gesprächspartner mit. Der Rest der Unterhaltungen folgt ebenfalls vergleichbaren Mustern: Man mutmaßt, man versucht aus den Informationen, die monothematisch einprasseln, ein kohärentes Bild zu erzeugen. Meist, in dem man dieselben gerade in den Nachrichten ausgiebig diskutierten Informationshappen wiedergibt – etwas weniger präzise vielleicht, etwas weniger prägnant und ein wenig gefiltert durch die eigene Weltsicht. 

In einigen dieser seltsam mäandernden Gespräche, geführt zwischen Tür und Angel von  Fitness-Spaziergang, Einkaufs-Run und Home Office-Lockdown, fiel – nicht nur einmal und nicht ohne schnippischen Unterton – die Frage, wie denn nun Geschichten in der aktuellen Lage weiterhelfen würden. Oder ob sinnvolles Storytelling sich in „Zeiten wie diesen“ nicht doch selbst abgeschafft hätte: Unterhaltung auf dem einschlägigen Streaming-Dienst zur Ablenkung im Lockdown-Lager sei ja nachvollziehbar, ansonsten gäbe es doch keinen Platz für Themen, die nicht von COVID-19 berührt seien, so die Erläuterung des Gegenübers. 

Die Antwort auf den Vorwurf des vermeintlich „sinnfreien“, weil lediglich auf Eskapismus angelegten Geschichtenerzählens, liegt auf der Hand. Storytelling ist nämlich eben mehr als reines Fabulieren, als Erzählen um des Erzählens Willen. In der aktuellen Situation sehen wir die Funktion von Storytelling in einer seiner reinsten Formen: Das Erzählen von Geschichten, um Sinn zu finden in „non-routine, uncertain and novel situations thereby enabling collaborative development of previously acquired skills and knowledge, but also promoting social cohesion by strengthening intragroup identity and claryfing intergroup relations.“ (Quelle).

 

Viel Rauschen, wenig Signal

Dass Storytelling und das nur leidlich ins Deutsche übersetzbare „Sense-Making“  gerade in Extremsituationen, in denen mehr als reine Unterhaltung gefragt ist, eine offensichtliche Einheit formen, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Gerade im Bereich des Organisationsmanagement und der Frage danach, wie einzelne individuelle Geschichten dazu beitragen können, das Sense-Making einer größeren sozialen Einheit wie einem Unternehmen, einer Institution oder einer NGO formierend zu unterstützen, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Das Erzählen von Geschichten, um unsere Umwelt sinnvoll zu ordnen und Wissen weiterzugeben, ist eine der essentiellen Funktionen von Storytelling.

Doch was die letzten Wochen gezeigt haben, ist eine Zuspitzung dessen, was der Futurologe Daniel Schmachtenberger bereits weit vor COVID-19 als „War on Sense-Making“ betitelte. In einem Interview erläutert er auf prägnante Weise, wie die aktuelle Informationsökologie – getrieben durch den Dreisatz aus Verweildauer, personalisierter Werbung und algorithmischer Empfehlung – dem Vorgang des sinnvollen Sense-Making in einer überwältigend komplexen Welt abträglich ist: Viel Rauschen, wenig Signal kommt bei uns Empfängern als „human meaning-making machines“ an. Weil es Storyteller und Medien gibt, denen der Wahrheitsgehalt der von ihnen ausgehenden Kommunikation nicht wichtig ist. Im Gegenteil, sie scheinen sogar interessiert an einer möglichst überwältigenden Kommunikationsarchitektur, in denen sie ihren „Schadcode“ besser verbergen können, so Schmachtenberg. 

 

Zwischen hilfreichen Geschichten und Pseudo-Storytelling

Doch selten zuvor hat sich das Versagen verschiedener Arten des Storytelling als Werkzeug des Sense-Making derart klar gezeigt, wie derzeit. In jenem Moment, in dem die Corona-Krise zum globalen, über alle Schichten und Identitätsgrenzen hinweg vereinnahmenden und bestimmenden Thema wird, zeigt sich deutlich, wo die Bruchstellen eines nur vermeintlich sinnstiftenden Pseudo-Storytellings finden. Oder anders ausgedrückt: Wir sehen, welche Geschichten hilfreich sind, um die aktuelle Lage besser zu verstehen und welche nur Störsignal. 

Die Reaktionen des Internets auf die von Schauspielerin Gal Gardot angeführten und über Twitter geteilten Promi-Singalongs zu John Lennons „Imagine“ legte eine Bruchlinie frei, die schon vor Corona-Zeiten bestand. Nun, im Angesicht von einer Welle von Arbeitslosen, von speziell in den USA für viele existenzbedrohender wirtschaftlicher Kontraktion und von einem sich abzeichnenden katastrophalen Versagen auf Regierungsebene, schlug dem wohlgemeinten Song-Gruß ungeahnte Antipathie entgegen.

Die Nachricht schien deutlich: In Zeiten wie diesen kann die „Celebrity Culture“ keine der Narrativen liefern, die das von Menschen erwartete Sense-Making hilfreich unterstützt. Im Gegenteil: Das was vor wenigen Wochen zumindest noch für Erheiterung im Social Media-Universum gesorgt hätte, wurde als „Noise“ betrachtet und kollektiv geächtet. Ein Umstand der einige Journalisten bereits zu der These inspirierte, dass nun die Promi-Fixiertheit zwischen roten Teppichen und Filmpremieren, zwischen Mode-Shoots und Instagram-Confessionals generell dem Untergang geweiht sei. 

 

Von Verschwörungstheorien und anderen Störsignalen

Welche Narrativen derzeit als hilfreich für ein gelungenes Sense-Making gesehen werden und welche nicht, scheint viel Aufschluß darüber zu geben, was „signal“ und was „noise“ ist sowie wo welche Narrativen aufgegriffen werden und Anklang finden, um dann weiterverbreitet zu werden. Fraglos bedenklich ist die Wucht, mit der aktuell die Weltsicht des in den letzten Jahren an Zuspruch gewinnenden „crazy fringe“ des Internets in den Mainstream schwappt. So beispielsweise das Resultat einer „broken narrative“, die zu „broken sense-making“ führt und in der COVID-19 als unmittelbare Folge der neuen 5G-Technologie gesehen wird. Demolierte und in Brand gesteckte Sendemasten in Großbritannien und den Niederlanden zeigen die Überzeugungskraft dieser „broken narratives“.

Eine, die im Angesicht anderer weit verbreiteter Verschwörungstheorien beinahe noch rational wirkt: Von einem „erfundenen Virus“, um die Bürger in den Überwachungsstaat zu zwängen berichten die einen, von einem weltweiten, unter dem Mantel des Lockdown durchgeführten Schlag gegen den „deep state“ die anderen, von einem unsichtbaren Krieg gegen die unsichtbare und alles kontrollierende Elite, die sich an der Droge Andrenochrome labt berichten vermeintliche Influencer wie Xavier Naidoo. Wiederum andere sehen in der akuellen Lage den letzten Akt in einem seit Jahrtausenden währenden intergalaktischen Zwist, der nun die Erde in die lange ersehnte Souveränität führen wird. 

Eine große Menge Störsignale also, die nicht als solche interpretiert werden, sondern als wahrheitsgemäße Narrative betrachtet werden. Aus der Fülle an einprasselnden Infohappen werden jene herausgefiltert und in eine vermeintlich logische Kausalitätskette gesetzt, die das Resultat eines „broken sense-making“-Prozesses sind.  Oder, um es mit dem Beispiel eines Kollegen auszudrücken: Es ist als würde man an einer Kreuzung stehen, an der zwei Autos einen Unfall haben. An der Kreuzung blüht ein Strauch, auf den sich just im Moment des Unfalls eine Biene setzt. Den Zusammenhang aus Biene-> Strauch -> Unfall herzustellen, scheint abwegig. Doch für einen Teil der Bevölkerung, gefangen in einem Netz aus zahllosen Einzelinformationen, deren Verhältnis zueinander von einfach über komplex bis nicht-existent reicht, wirkt diese Art des „broken sense-making“ vollkommen plausibel. Verknüpfungen zwischen einzelnen, nicht miteinander verbundenen Ereignissen herzustellen, um Komplexität zu reduzieren und vermeintlich Klarheit zu erlangen.   

 

Die große Chance Storytelling richtig zu nutzen

Die Reduktion von Komplexität über eine fehlerhafte Narrative ist keine Lösung. Diese liegt vielmehr darin Storytelling aktiver zu nutzen, um die jetzt geforderten Prozesse eines vernünftigen Sense-Making zu begünstigen. Wie diese Aussehen, lässt sich in zahllosen Aktionen und Handlungen sehen, die darauf abzielen die „wilde Zeit“ kognitiv zu fassen, zu verarbeiten und ihr dadurch sinnstiftend zu begegnen. Sei es die Visualisierung von komplexen Sachverhalten durch datengetriebenes Storytelling, sei es die radikal scheinende Neubetrachtung als unumstößlich geltender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Narrative wie in Spanien, wo im Zuge der Krise das universelle Grundeinkommen plötzlich auf der politischen Agenda steht;  sei es die Entblößung struktureller Missstände und Ungerechtigkeiten wie im Fall des britischen Gesundheitssystems; sei es die Entlarvung der leeren Worthülsen populistischer Rhetorik, wie sie mit voraussichtlich tragischen Folgen in Brasilien und den USA vor sich gehtsei es die Verbindungen, die durch die geteilte Erfahrung und den daraus hervorgehenden, miteinander geteilten Geschichten entstehen – den Regenbögen und den „Alles wird Gut“-Nachrichten, die Familien mit Kindern an Fenstern und Türen der Nachbarschaft hinterlassenden Solidaritätsbezeugungen gegenüber Rettern und Helfern, den per Streaming verbreiteten Ablenkungen aus den Kammerspielen, dem National Theatre oder der erstmaligen Veröffentlichung der gregoriansichen Gesänge eines französischen Nonnenklosters.

Welche kollektiv und individuell geformten Narrative tragfähig sind, welche sich im Auge der außergewöhnlichen Situation und Krise als stimmige Mittel des Sense-Makings erweisen, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Als Funktion der Sinnsuche, der Verhandlung zwischen unterschiedlichen Konzepten und letztlich der Sinnstiftung scheint Storytelling wichtiger denn je. Denn es gilt nun jene Narrative zu finden und zu stärken, die im Moment einer Zäsur erlauben stimmige Erzählstränge in die Zukunft zu projizieren. Und den Moment der Unterbrechung im Lauf des Alltäglichen zu nutzen, um herauszufinden was Signal und was Störgeräusch ist: Welche Geschichten lohnen sich, erzählt zu werden und welche nicht. So zumindest die Hoffnung. Und so die ausufernde Antwort, die ich meinem allmählich von 1,50 Meter auf drei Meter abrückenden Gesprächspartner gab – hier zwischen Fitness-Spaziergang, Einkaufs-Run und Home-Office.