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Ab in den Urlaub – aber das sind doch auch nur Geschichten

Die Bayern brechen jetzt auf. Und die Rheinländer kommen schon fast wieder zurück. Es ist Reisehauptsaison in Deutschland. Doch in einem Sommer, in dem Flugscham erstmals die Runde macht und das Land Tirol seine Grenzen zu Deutschland abdichtet, sollte man sich einmal Zeit nehmen, zu überlegen, warum wir so sehnsuchtsvoll das Weite suchen, wenn wir mal frei haben.

von Petra Sammer

Da ist zum einen natürlich die Flucht. Die Flucht vor dem Gewohnten, dem Alltäglichen, dem Banalen. Die Flucht vor der Arbeit, die auch zuhause auf einen wartet. Zum Beispiel müsste man schon längst mal den tropfenden Wasserhahn austauschen, die Küche grundreinigen oder die Steuererklärung machen. Also lieber rein ins Auto und ab nach Italien.

Und dann ist da die Sehnsucht. Eine mehr oder weniger konkrete Wunschvorstellung vom perfekten Ort, den man in der Ferne zu finden hofft und dem man hinterherreist.

Denn wer glaubt, dass es beim Reisen um die spontane und offene Begegnung mit dem Unbekannten und Neuen geht, der irrt. Reisen ist vielmehr eine Bestätigung von Erwartungen und vorgefassten Vorstellungen.

Reisen ist das Abarbeiten vorgefertigter Stories

Die Bilder und Geschichten, die wir über unsere Sehnsuchtsorte und Ziele im Kopf haben, bestimmen den Ablauf der Reise. Die zu besichtigenden Orte sind vom Start weg auf einer imaginären „Itinèraire“ verzeichnet und die Route selbst dient fast ausschließlich dem Abarbeiten dieser Stories und Bildvorlagen.

Seit jeher ist es die Aufgabe der Fotographie, das Erstaunliche in der Fremde, das man eigentlich aber schon gehört oder gar auf einem anderen Bild gesehen hat, festzuhalten – weniger als Erinnerung, sondern viel mehr als Beweis, dass man tagsächlich dort gewesen ist.

Dieses Phänomen der Bildbestätigung ist nicht neu. Fratelli Alinari in Florenz ist das älteste fotografische Unternehmen der Welt. Gegründet 1852 – zwei Jahrzehnte nachdem der französische Erfinder Nicèphore Nièpe zum ersten Mal ein Bild auf eine Zinnplatte bannte und dreizehn Jahre nachdem mit der Diguerreotypie ein fotografisches Verfahren auf den Markt kam, das man kommerziell nutzen konnte.

Das Fotogeschäft verdankt seine Entstehung dem Tourismus. Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es so etwas wie „Pauschalreisen“. Die populäre „Grand Tour“ führte junge nordeuropäische Aristokraten und bürgerliche Neureiche nach Florenz, Venedig, Mailand, Rom und Neapel.

Und in all diesen Städten gab es moderne Fotostudios, in denen man seine Bilder direkt vor Ort entwickeln lassen konnte. Frateli Alinari ist das einzige Studio, das bis heute überlebt hat.

Denn heute machen wir über 85 Prozent aller Fotos mit dem Smartphone und produzieren pro Jahr an die 1,5 Milliarden Bilder – ganz ohne Entwicklungszeit. Und doch ist eines gleichgeblieben: die meisten Reise-Fotos werden auch heute nicht aus Entdeckungslaune produziert, sondern als Beweismittel.

Instagram hat an diesem Phänomen einen nicht unerheblichen Anteil – und zwar in doppelter Hinsicht: Bildmotive von außergewöhnlichen Reisezielen lösen die Sehnsucht und den Run auf Destinationen aus, die – mangels Bildmaterial – bisher unbeachtet blieben. Vor Ort reproduzieren Touristen diese Bildmotive – mit ihrem eigenen Smartphone – und publizieren diese erneut in Instagram. Ein Teufelskreis, der für manchen Ort auch zum Verhängnis werden kann. „Instagram-Overtourism“ nennt man das, wenn den einst einsamen Felsen Trolltunga (Trollzunge), hoch über dem Ringedalsvatnet-See in Norwegen, so viele Menschen stürmen, dass Absturzgefahr herrscht und man sich in langer Schlangen anstellen muss, um das gleiche Motiv vom einsamen Wanderer hoch über dem See zu schießen. Ein Fotomotiv, dass übrigens ein Bild von 1818 zitiert.
Dem „Wanderer im Nebelmeer“ von David Caspar Friedrichs dürften viele der Hobbyfotographen in der Schule begegnet sein. Und so ist jedes der tausenden Fotos vom Trolltunga-Felsen gleichsam ein Zitat und eine Hommage an das berühmte Originalbild.

Bilder sind Erzählräume

Auch wenn Fotographen wie Oliver Kmia sich darüber lustig machen, wie unkreativ und uniform diese immer gleiche Art der Reisefotographie ist (in seinem Video „InstatravelA Photogenic Mass Tourism Experience“ reiht er ein gleiches Motiv an das andere), es stört die Macher dieser Fotos nicht. Im Gegenteil, der Strom der Bilder ist nicht zu stoppen und das aus gutem Grund.

Denn es geht nicht darum, Realitäten abzubilden. Die herausragenden Bildmotive auf Instagram, die, von denen wir uns am meisten angesprochen fühlen, zeigen weit mehr als die Wirklichkeit. Sie eröffnen Räume. Erzählräume. Sie helfen uns einzutauchen und abzutauchen in die Geschichte hinter den Bildern. Es sind Bilder, die wie „Rabbit Holes“ funktionieren – wie das berühmte Kaninchenloch in Lewis Carroll´s „Alice im Wunderland“. Es sind Bilder, die unsere Fantasie anregen, die uns neugierig machen, die uns tagträumen lassen.

Motive und visuelle Codes, die nicht nur unsere inneren Bilder bestätigen, sondern die uns auch Stoff für Geschichten bieten. Bilder, die uns neuen Erzählstoff liefern oder aber – noch besser -, die uns an gute Geschichten erinnern, die wir schon kennen.

Die Welt als erzählte, bildhafte Vorstellung

Andrea David, Influencerin und Bloggerin, hat genau dies zu ihrem Thema gemacht. Schon in ihrer Abschlussarbeit als Tourismusmanager ging sie der Frage nach, wie Filme die Wahl von Reisezielen beeinflussen, und als begeisterter Filmfan machte sie diese Leidenschaft zu ihrem Beruf. Seit 2007 ist Andrea David als Filmtouristin unterwegs und nimmt ihre Leserinnen und Leser auf ihrem Blog „Filmtourismus“ zu Drehorten berühmter Filme mit. Mit ihrem Hobby ist sie nicht allein, denn über 100.000 User pro Monat nutzen ihre Reisetipps – auch auf Facebook und Instagram (@filmtourismus).

Dabei nehmen es viele Tourismusbüros in kauf, dass sich die Deutungsrahmen (Frames) ganzer Regionen aufgrund starker Stories verändern: so werden Island, Kroatien und Nordirland zu Westeros und Neuseeland zu Mittelerde.

Wir sehen, was wir sehen wollen und verändern dadurch selbstverständlich die Erzählung über diese Räume.

Dies war vor 150 Jahren auf der „Grand Tour“ nicht anders. Die Fotographen damals waren nicht zimperlich und bauten schnell mal einen Renaissance-Thron, wo gar keiner war. Heute dienen viele dieser alten Aufnahmen als Zeitdokumente, die angeblich die Welt von damals zeigen. Doch es ist fraglich, ob das auch wirklich alles so stimmt.

In seinem Artikel über das älteste Fotogeschäft der Welt, zitiert der SZ-Journalist Thomas Steinfeld den Kulturkritiker, Soziologen und Philosophen Siegfried Kracauer, der vor 100 Jahren bereits betonte, dass eine Fotografie einen Gegenstand nicht nur darstellt.: „Sie nimmt von ihm Besitz und mehr noch: die dringt in ihn ein“ – und heute sehen wir, dass sie sogar bewirken kann, wie wir die Welt wahrnehmen.

 

>> Bilder haben Macht – sie machen etwas mit uns. Storyteller setzen auf diese Kraft der Bilder, sind sich aber oft nicht im klaren, auf welch visuelle Codes und Frames sie dabei zurückgreifen und was damit ausgelöst werden kann. Auf der Storytelling-Konferenz Plot19 wird Jens Badura vom Think & Do Tank CreativeAlps das Publikum mitnehmen auf eine Reise durch die Alpen, um sie für die visuellen Codes zu sensibilisiert, die bereits von Malern des 19. Jahrhunderts für diesen Raum gesetzt wurden – und die wir heute noch nutzen. Badura geht es um das Bewusstmachen und die Dekonstruktion von Bildräumen – ein Wissen und eine Methodik, die es Marketingprofis, Unternehmenskommunikatoren und auch Storytellern in Film & Theater ermöglicht, Erzählräume visuell neu zu konstruieren und spannend zu erzählen. Infos zu Plot19 – Programm und Tickets unter www.whattheplot.com